Prof. Dr. Gunter Thielen, Vorstandsvorsitzender der Walter Blüchert Stiftung


Zwischenruf: Gesundheitsförderung für Alleinerziehende – Mit dem Präventionsgesetz auf dem Weg zum flächendeckenden „wir2“-Angebot

Zwischenruf von Prof. Dr. Gunter Thielen anlässlich der Kooperation mit der BARMER

05.11.2018 – Schon öfter habe ich an dieser Stelle von „wir2“ berichtet, unserem erfolgreichen und wissenschaftlich bestätigten Bindungsprogramm für belastete Alleinerziehende. Eines der wichtigsten Ziele in diesem Projekt ist es für uns, das Angebot flächendeckend auszurollen. Denn wir möchten, dass möglichst viele der allein in Deutschland 2,6 Millionen Betroffenen davon profitieren. Dabei sind wir jetzt einen großen – und entscheidenden – Schritt weitergekommen, denn wir haben künftig einen neuen, starken Partner an unserer Seite: die BARMER Krankenversicherung.

Um die Gesundheit der Betroffenen zu verbessern, wird die BARMER „wir2“ künftig bundesweit finanziell fördern. Die Vereinbarung sieht vor, dass das für die Teilnehmer kostenlose Training vor allem in sozial benachteiligten Kommunen mit einem hohen Anteil Alleinerziehender durchgeführt wird. Auch Alleinerziehende, die nicht Mitglied der BARMER sind, können teilnehmen. Insgesamt zehn Kommunen können noch in diesem Jahr im Rahmen des Präventionsgesetzes eine finanzielle Förderung durch die BARMER beantragen, im kommenden Jahr sollen weitere 20 Kommunen dazukommen. An „wir2“ interessierte Städte und Gemeinden müssen eine passende Einrichtung wie etwa eine Kita sowie zwei Betreuer für die Kursdurchführung benennen. Die Betreuer werden in einer dreitägigen Schulung, organisiert von der Walter Blüchert Stiftung, zu „wir2“-Gruppenleitern ausgebildet.

Ein Meilenstein in unserer Arbeit

Die Kooperation mit der BARMER ist für alle „wir2“-Mitstreiter – von Professor Matthias Franz und seinem Team vom Uniklinikum in Düsseldorf, der das Programm entwickelt hat und laufend weiter evaluiert, über die Schulungsleiter bis hin zur Projektleitung von „wir2“ in der Stiftung – ein großer Erfolg. Und es ist eine gute Nachricht für die Jugendämter, Sozialbehörden und Kitas vor Ort, die jetzt mehr Unterstützung erhalten. Erfreulich ist aber auch, dass mit dieser Kooperation das Präventionsgesetz für die Zielgruppe der Alleinerziehenden endlich mit Leben gefüllt wird. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass Alleinerziehende ein deutlich höheres Krankheitsrisiko haben als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie nehmen Vorsorgeuntersuchungen und andere Gesundheitsangebote seltener wahr als andere Gruppen, sie rauchen häufiger, leiden unter Schlafproblemen, Angst oder Depressionen. Aber nur, wenn sie einen gesunden, sorgsamen und liebevollen Umgang mit sich selbst pflegen, gelingt ihnen das auch mit ihren Kindern. Im „wir2“-Elterntraining können sie in einer Gruppe Gleichgesinnter und unter fachmännischer Anleitung lernen, eigene und fremde Gefühle besser zu verstehen, entspannter mit den Belastungen ihres Alltags umzugehen und selbstzerstörerische Muster zu durchbrechen. Wissenschaftliche Auswertungen zeigen, dass Mütter, Väter und Kinder nachhaltig von diesem qualitätsgesicherten Programm profitieren: So zeigte sich bei den Teilnehmern ein statistisch signifikanter und nachhaltiger Rückgang psychosomatischer Beschwerden wie Depressionen und chronische Schmerzen. Auch kindliche Verhaltensauffälligkeiten nahmen deutlich ab. Damit erfüllt „wir2“ alle Qualitätskriterien eines modernen Präventionsprogramms im Bereich früher Familienhilfen und ist unter anderem in der höchsten Evidenzkategorie der Grünen Liste Prävention aufgeführt.

Präventionsgesetz als Konjunkturprogramm

Als Social Franchise-Geber von „wir2“ haben wir uns den erfolgreichen Rollout des Programms auf die Fahnen geschrieben: bundesweit verfügbar, kostenlos für die Teilnehmer, wissenschaftlich begleitet und – etwa durch die zeitgleich angebotene Kinderbetreuung – nah an der Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Rund 1.000 alleinerziehende Mütter und Väter, die bereits an einem „wir2“-Training teilgenommen haben, zählen ebenso zur bisherigen Erfolgsbilanz wie die rund 20 Kooperationspartner (Jugendämter, Jobcenter, Familienzentren, Kitas und viele andere), die an mehr als 30 Standorten die Umsetzung übernehmen. Mit Bielefeld und Münster sind in den vergangenen Monaten zwei neue „wir2“-Orte auf der Landkarte dazugekommen und einige Gespräche, die wir derzeit führen, geben uns Anlass zur Hoffnung, dass die Zahl weiter stiegen wird. Das Präventionsgesetz wirkt dabei wie ein kleines „Konjunkturprogramm“ für „wir2“, denn viele Krankenversicherungen suchen Partner, die ihnen helfen, ein qualitätsgesichertes und erfolgreich evaluiertes Programm anzubieten. So war es beispielsweise in Kassel, wo wir zu Jahresbeginn ein Pilotprojekt mit der Stadt gestartet haben. Und so war es bei der BARMER, der zweitgrößten Krankenkasse Deutschlands, über die wir künftig in vielen zusätzlichen Kommunen vertreten sein werden. Die Nachfrage nach Präventionsangeboten für Alleinerziehende bleibt groß, und die Walter Blüchert Stiftung ist ein gefragter Partner. Auch das bestätigt uns in unserer Arbeit.

Neue Familienkonstellationen erfordern neue Unterstützungskonzepte

Wie eine aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes zeigt, hat die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren deutlich zugenommen – im Gegensatz zu den traditionellen Familien, die immer seltener werden. Jedes fünfte Kind – insgesamt 2,4 Millionen Kinder – lebt nur mit der Mutter oder dem Vater zusammen. Das sind rund 300.000 Kinder mehr als vor zwanzig Jahren. Jedes Jahr kommen rund 160.000 Kinder neue Trennungskinder dazu. Politik und Kommunen, aber auch die Wirtschaft ist gefordert, sich auf die veränderte Realität von Familien in Deutschland einzustellen und Konzepte zu entwickeln, die dieser Entwicklung Rechnung tragen. Gerade Alleinerziehende brauchen eine zuverlässige und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung, um erwerbstätig sein und sich und ihre Kinder vor der Armutsfalle schützen zu können. Auch kleinere Betriebe sollten ihre Mitarbeiterinnen hier so gut wie möglich unterstützen, sei es durch ein Rückkehrrecht in eine Vollzeittätigkeit, Home-Office-Lösungen oder Kinderbetreuungsangebote in Randzeiten – etwa, wenn Schichtarbeit dies erfordert. Vor allem aber brauchen Alleinerziehende und ihre Kinder unsere Unterstützung als Gesellschaft. Moralische Bewertungen und Vorurteile gehören in die Mottenkiste, ebenso wie kluge Ratschläge dazu, wie Alleinerziehende ihr Leben führen sollen. Das ist auch im „wir2“-Programm für uns das A und O: Unser Training liefert keine Patentrezepte. Unsere Schulungsleiterinnen haben keinen Zehn-Punkte-Plan in der Tasche, wie mit einem durch die Trennung verstörten Kind oder einem unzuverlässigen Ex umzugehen ist. Aber sie zeigen den Teilnehmerinnen, wie sie wieder Zugang zu ihren Wünschen und Gefühlen bekommen. Sie vermitteln, dass es keine „Schuld“ gibt und dass viele Ähnliches erlebt haben. Das schafft – trotz aller Belastung – Freiraum für schöne und glückliche Momente. Bei den Müttern und den Kindern.

Es grüßt Sie herzlich
Ihr Gunter Thielen