Hilfe für Alleinerziehende wichtiger denn je (Teil 2 des Interviews „Zehn Jahre wir2“ mit Prof. Matthias Franz und Prof. Gunter Thielen)

Wie hat sich die Situation von Alleinerziehenden in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt entwickelt?

Gunter Thielen: Leider hat sich die Situation von Alleinerziehenden in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt weiter verschärft – und ihnen zu helfen, ist wichtiger denn je. Gegen den demografischen Trend, der eine Abnahme an Ehepaaren mit minderjährigen Kindern zeigt, nimmt die Anzahl Alleinerziehender weiter zu. Aktuell leben 1,7 Millionen Alleinerziehende mit 2,5 Millionen minderjährigen Kindern in Deutschland.

Die finanzielle und die gesundheitliche Situation Alleinerziehender hat sich weiter verschlechtert. Das Armutsrisiko ist auf 43 Prozent gestiegen, sodass 52 Prozent der Kinderarmut aus Ein-Eltern-Familien kommt. Alleinerziehende und ihre Kinder haben in den letzten Jahren besonders unter der Mehrbelastung, Einsamkeit und wegfallender Unterstützung in der Corona-Pandemie gelitten. Hinzu kommen weitere Faktoren wie die Inflation, Zukunftsängste aufgrund von Krieg und Klimawandel und eine sich hartnäckig haltende Marginalisierung der Alleinerziehenden.

Matthias Franz: Das alles führt dazu, dass Alleinerziehende ein massiv erhöhtes Risiko zum Beispiel für depressionstypische Beeinträchtigungen haben. Wenn dann keine frühzeitige Hilfe erfolgt, teilt sich die elterliche Depression zwangsläufig auch den Kindern mit und erhöht so deren gesundheitliche Entwicklungsrisiken mit möglichen Spätfolgen bis ins Erwachsenenleben.

Was hat das Programm konkret bewirken können?

Gunter Thielen: Das Programm hilft nachweislich dabei, gesundheitliche Risiken für die hoch belastete Gruppe der Alleinerziehenden zu senken sowie die Folgen für die Kinder abzufedern. Somit kann wir2 einen Beitrag zur Gesundheitsvorsorge jeder einzelnen Person leisten, die daran teilnimmt. Schaut man sich die Evaluationen der durchgeführten Gruppen der vergangenen Jahre an, so ist dies auch eine Bestätigung unserer Arbeit, und wir freuen uns über jede:n Alleinerziehende:n, die/den wir hiermit unterstützen können – seit 2014 waren das schon rund 2.000 Menschen. 

Was macht Sie besonders stolz?

Matthias Franz: Es macht mich froh, dass wir inzwischen so viele Alleinerziehende und ihre Kinder mit dem wir2-Bindungstraining erreichen und ihnen helfen konnten. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie die hoch motivierten und engagierten Multiplikatoren vor Ort trotz vieler Hürden alles tun, um den Alleinerziehenden mit wir2 zu helfen. Besonders freue ich mich jedoch über die Alleinerziehenden, die sich auf das wir2-Bindungstraining einlassen, sich bewusst die Zeit nehmen und ihre Kraft aufwenden, um ihr Wohlbefinden und das ihres Kindes zu verbessern. Das ist nicht selbstverständlich.

Wohin geht die Reise – wie möchten Sie das Programm weiterentwickeln?

Gunter Thielen: Wir sind stets daran interessiert, das Programm sowohl qualitativ als auch quantitativ weiterzuentwickeln. Quantitativ in dem Sinne, dass wir neue Kooperationspartner gewinnen, so dass es für möglichst viele Alleinerziehende angeboten werden kann und es auch flächendeckend in ganz Deutschland die Möglichkeit gibt, an wir2 teilzunehmen.

Qualitativ in dem Sinne, dass das Team um Prof. Franz in Neuss stetig an der inhaltlichen Weiterentwicklung arbeitet. Hier sind beispielsweise die erwähnten Formate wir2Reha und wir2kompakt zu nennen oder auch die Ergänzungen für Alleinerziehende mit Kindern unter drei Jahren.

Was steht als Nächstes an?

Gunter Thielen: In diesem Jahr steht vor allem die Entwicklung einer digitalen Plattform auf der Agenda. Diese soll zum einen als Anlaufstelle für Alleinerziehende dienen und viele wichtige und aktuelle Informationen bereithalten und zum anderen als Austauschplattform und Wissensnetzwerk für unsere Kooperationspartner und wir2-Gruppenleitungen. Außerdem können Alleinerziehende, die bereits an wir2 teilgenommen haben, hierüber in Kontakt bleiben und weiterhin von den Vorzügen des wir2-Netzwerks profitieren.

Welche Begegnungen im Rahmen des Programms sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Matthias Franz: Ich fand es eine unglaublich positive Erfahrung, wie uns die Walter Blüchert Stiftung aufgefangen hat, in einer Situation, in der wir wir2 nach erfolgreicher wissenschaftlicher Programmentwicklung aufgrund der Umsetzungsschwierigkeiten fast aufgegeben hätten. Das hat mein Team und mich sehr beeindruckt und berührt.

Auch die Begegnung mit Frau Gross, die sich als Präsidentin der DRV-Bund für die Alleinerziehenden einsetzt, war sehr wichtig. Besonders dankbar bin ich auch Prof. Egle, der es vor über zehn Jahren möglich machte, dass wir2 zum ersten Mal erfolgreich in einer psychosomatischen Rehaklinik für Alleinerziehende mit ihren Kindern angeboten werden konnte. Dieses Modell hat Schule gemacht. Und aktuell die Ansiedelung des operativen wir2-Teams am Alexius/Josef Krankenhaus in Neuss und das dort von Alleinerziehenden stark nachgefragte Angebot unseres Bindungstrainings war ein großer Schritt in die Versorgungswirklichkeit.

Vor allem aber die Begegnung mit den vielen alleinerziehenden Müttern und Vätern, die uns nach Teilnahme an einer wir2-Gruppe von den berührenden und hilfreichen Erfahrungen mit diesem Programm berichten, ist die wichtigste Bestätigung für uns alle.

Gunter Thielen: Das kann ich nur unterstreichen. Den Alleinerziehenden persönlich zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, gehört zu den beeindruckendsten Momenten, die ich im Zusammenhang mit wir2 erlebt habe.  

Was verbinden Sie persönlich mit wir2?


Matthias Franz:
Die wissenschaftliche und psychotherapeutische Beschäftigung mit dem Thema familiäre Trennung und der Bedeutung des Vaters war und ist zentral für meine Arbeit als Forscher und Arzt. Es hat mich über Jahrzehnte meines Lebens begleitet und bestimmt. Wir wissen heute sehr genau, dass die Beziehungen zu unseren Eltern und das, was sie uns in den ersten Lebensjahren vermitteln, uns sehr weitgehend ein Leben lang beeinflussen kann.

Deshalb freue ich mich, dass wir mit wir2 für eine hochbelastete Gruppe von Eltern und Kindern ein hilfreiches Angebot auf den Weg gebracht haben. Das finde ich sinnstiftend und auch im Rückblick sehr befriedigend.

Und vielleicht noch etwas persönlich: erst vor Kurzem wurde mir bewusst, dass meine Großmutter Tochter einer alleinerziehenden Mutter war, die sie in ihrer Zeit gegen viele Widerstände ins Leben begleitete. Ich durfte sie, die in ihrer Kindheit ohne Vater mit einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs, in meiner Kindheit als sanfte, kluge, humorvolle und warmherzige Großmutter erleben und ich spüre ihren liebevollen Blick bis heute.

Gunter Thielen: Menschen in schwierigen Lagen zu helfen, war ein wesentliches Anliegen unseres Stifters Walter Blüchert. Als sein Freund und Testamentsvollstrecker kann ich mich mit der Stiftung dafür einsetzen, dieses Anliegen in die Tat umzusetzen. Ich denke, er wäre begeistert, wenn er noch erlebt hätte, welche Wirkung Projekte wie wir2 jetzt entfalten und wie wir Menschen stärken können – dank seines Vermächtnisses.

Teil 1 des Interviews


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