Bildungsgerechtigkeit – gleiche Chancen für alle?

Was ist gerecht? Zum Beispiel wenn alle das gleich große Stück vom Kuchen bekommen? Aber was ist, wenn nicht alle das Gleiche brauchen? Wenn der eine satt ist, die andere hungrig? Wenn eine groß und stark, der andere klein und schmächtig ist?

Die Weltgemeinschaft hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 eine chancengerechte Bildung für Menschen weltweit sicherzustellen: Bildungsgerechtigkeit, unabhängig von der sozialen Herkunft, der ökonomischen Ausgangslage, dem Geschlecht, dem Migrationshintergrund oder gesundheitlicher und kognitiver Voraussetzungen. Diese Forderung steht auch in Deutschland seit Jahrzehnten auf der Agenda. Doch bis heute sind viele Kinder benachteiligt im Vergleich zu ihren Mitschülern aus besser gestellten Elternhäusern, weil sie nicht in der Lage sind, die – durchaus vorhandenen – Bildungs-Chancen zu nutzen. Das belegt auch der Bericht „Bildung in Deutschland 2022“. Die wiederholt formulierten bildungspolitischen Ziele wurden deutlich verfehlt.

„Gleiche Beschulung“ reicht nicht

Schlimmer noch: Der Trend bei den Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen geht bergab, die Bildungs-Ungerechtigkeit wächst. Wenig überraschend zeigen denn auch Umfragen in der Bevölkerung, dass fast die Hälfte der Bundesbürger das deutsche Bildungssystem für ungerecht hält.

In der schulischen Praxis zeigt sich, dass der Wettbewerbsnachteil von Kindern aus bildungsfernem Umfeld in der Regel so groß ist, dass „gleiche Beschulung“ nicht ausreicht, um den Vorsprung der Mitschüler aus bildungsnahen Elternhäusern einzuholen.

Ganz offensichtlich fehlt es an Mitteln, Personal und Methoden, um die allseits geforderte Chancengerechtigkeit merklich zu verbessern. Und das, obwohl das Thema Bildung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Denn in hoch entwickelten Gesellschaften wie Deutschland gilt Bildung unbestritten als das wichtigste Instrument für die individuelle Lebensplanung, für die Ausbildung von Human-Ressourcen, für gesellschaftliche Teilhabe. Trotzdem fehlt die gesamtgesellschaftliche Debatte. Kein Aufschrei – keine überzeugenden Lösungskonzepte – keine Konsequenzen.

Übergang von Schule zu Ausbildung: Alarmierende Zahlen

Auch der Übergang von der Schule in Ausbildung oder Studium funktioniert längst nicht so reibungslos wie oftmals angenommen. Nicht einmal die Hälfte der Jugendlichen (43 Prozent) startet nach dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule direkt und dauerhaft in Ausbildungs- oder Studienkarrieren. 15 Prozent haben nach vier Jahren noch nicht einmal den Einstieg geschafft oder sie haben eine Ausbildung nach kurzer Zeit wieder abgebrochen. Das zeigt die Analyse des Nationalen Bildungspanels von nachschulischen Bildungswegen, die im Oktober 2022 von der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wurde.

Allarmierende Ergebnisse! Denn diese Zahlen bedeuten, dass jährlich mehr als 100.000 junge Menschen das Risiko haben, langfristig ohne Berufsabschluss zu bleiben. Und auch hier sind unter diesen Jugendlichen überdurchschnittlich viele Personen mit einem niedrigen Schulabschluss aus benachteiligten Familien und mit Migrationshintergrund.

Was ist zu tun? Beispiele

Ungleiche Start-Chancen in der Schule und auch bei der Ausbildung. Was ist zu tun? Das ist die Frage, die uns auch in der Walter Blüchert Stiftung bewegt. Wir setzen uns für Chancengerechtigkeit ein, indem wir mit unserer Projektarbeit Menschen in Umbruchsituationen Unterstützung anbieten und ihnen Mut machen, damit sie persönliche und gesellschaftliche Barrieren überwinden können. Es hilft, wenn sie ihre Stärken und Fähigkeiten erkennen und sich Perspektiven für die Zukunft auftun.

Diese Erfahrungen haben wir auch in unserem Flüchtlings-Projekt angekommen in deiner Stadt gemacht. Die Jugendlichen erhalten dort nachmittags und auch in den Schulferien Unterrichts- und Nachhilfeangebote, die gerne genutzt werden. Praktika, Kontakte zu Unternehmen, die wir vermitteln, schenken Einblicke in die Arbeitswelt und wecken berufliche Interessen.

Hilfreich für weniger privilegierte Kinder und Jugendlichen ist auch – das belegen unsere Projekte – die persönliche Begleitung durch engagierte Mentorinnen und Mentoren. Das zeigt sich sowohl beim was geht!-Programm für Abschlussklassen an Realschulen und Berufskollegs, bei dem Unterstützungsprojekt durchstarten in die Ausbildung, wo ehrenamtliche Mentoren angehende Azubis unterstützen, wie auch beim Langzeitarbeitslosen-Projekt neustart und im hochform-Programm für ausländische Akademiker.

In all unseren Stiftungsprogrammen stehen emotionale Unterstützung, persönliche Begleitung und Stärkung des Selbstbewusstseins im Vordergrund. Das gilt übrigens auch für das Grundschul-Projekt gut:gehen das wir kurzfristig vor einem Jahr ins Leben gerufen haben, um Corona-Beeinträchtigungen entgegenzuwirken. Bei diesem Mitmach-Angebot für Schülerinnen und Schüler der 2. bis 4. Klassen können die Kinder neue Spiel-Ideen ausprobieren, sich bei Rollenspielen gegenseitig kennenlernen, herumtoben, und neue Freunde finden.

Und auch das neue Projektvorhaben, das wir gerade planen, folgt diesem Credo. Hier geht es darum, Kinder an handwerkliches und kreatives Arbeiten heranzuführen. Wir möchten sie ermutigen, sie für Neues begeistern und ihnen Perspektiven für die Zukunft aufzeigen.

Handlungsbedarf!

Bildungsgerechtigkeit – das heißt auch: Eltern stärken, mehr Lehrer einstellen und besser ausbilden, Ganztagsschulen qualitativ ausbauen, Ferienzeiten sinnvoll nutzen, Berufsorientierung praxisnäher zu gestalten und vieles mehr. Für eine nachhaltige Entwicklung müssen alle gesellschaftlichen Akteure zusammenwirken. Lassen Sie uns den internationalen Tag der sozialen Gerechtigkeit am 20. Februar nutzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass hier – zunehmend! – Handlungsbedarf besteht. Wir müssen mit allen Kräften daran arbeiten, dass der Bildungserfolg künftig nicht mehr durch die soziale Herkunft beeinträchtig wird. Denn wir können auf all die vorhandenen Potenziale nicht verzichten.

Mehr Bildungsgerechtigkeit! Mehr Chancengerechtigkeit – in der Schule, in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft! Darum geht es. Denn der Zugang zu einer guten und zeitgemäßen Bildung ist nicht nur für den Wirtschaftsstandort Deutschland von enormer Bedeutung. Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben und das Wichtigste, was wir Kindern und Jugendlichen mit auf den Weg geben können.

Ihr

Gunter Thielen