Trotz Job-Boom arbeitslos? „neustart“ schafft Chancen auf Qualifikation und eine erfolgreiche Vermittlung

06 Juni 2019 Zwischenruf von Prof. Dr. Gunter Thielen

So gut wie im Moment war die Lage auf dem Arbeitsmarkt schon lange nicht mehr. Mit rund fünf Prozent ist die Arbeitslosenquote in Deutschland im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung gesunken. Doch leider können nicht alle von diesem Trend profitieren. Vor allem für Menschen, die schon seit mehr zwölf Monaten ohne Beschäftigung sind, hat sich die Situation sogar weiter verschlechtert: Waren sie im Jahr 2011 im Schnitt 555 Tage ohne Job, lag der Wert 2016 schon bei 629 Tagen. Haben 2011 knapp 300.000 Erwerbsfähige Hartz-IV bezogen, stieg die Zahl bis 2017 auf rund 317.000. Trotz Beschäftigungsboom gelingt es offenbar kaum, auch Menschen mit bisher schlechteren Chancen in die Arbeitswelt zu integrieren. Die Gründe sind vielfältig. Oft mangelt es den Betroffenen an Qualifikation. Einige haben keinen Schulabschluss. Andere haben eine Berufsausbildung angefangen, aber nicht zu Ende gebracht, ihren Beruf nie ausgeübt oder eine lange Familienpause eingelegt.

Langzeitarbeitslose haben häufig „schwierige“ Biografien 
Häufig kommt aber noch ein weiterer Faktor hinzu. Es ist der Ballast, den die Betroffenen mit sich – auch in Folge der langen Arbeitslosigkeit – mit sich herumtragen: Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Probleme beim Einhalten von Terminen und Zusagen oder mangelnde Konfliktfähigkeit. Diese „Päckchen“ machen den Betroffenen nicht nur selbst das Leben schwer. Zusammen mit den anderen erschwerenden Faktoren – etwa fehlender Qualifikation – gelten sie als zentrale Vermittlungshemmnisse in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis. Denn wer unzuverlässig ist, ständig zu spät kommt oder in Konfliktsituationen schnell die Kontrolle verliert, der wird auch auf einem grundsätzlich arbeitnehmerfreundlichen Stellenmarkt schnell an seine Grenzen stoßen. Genau für diese Zielgruppe haben wir „neustart – erfolgreich zurück ins Arbeitsleben“ konzipiert. Seit Anfang des Jahres hilft es im Rahmen einer Pilotphase zunächst am Standort Dortmund dabei, Langzeitarbeitlose für die erfolgreiche Aufnahme einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu stabilisieren. Teilnehmen können außerdem Personen, die unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht sind, weil sie ihren erlernten Beruf nicht länger ausüben können. Voraussetzung ist, dass sich die Interessentinnen und Interessenten in einer vom Jobcenter geförderten, abschlussorientierten Nachqualifizierung befinden. In Dortmund werden die Teilnehmer beispielsweise zum Steuerfachangestellten, Berufskraftfahrer, Altenpfleger, Erzieher und Verkäufer ausgebildet.

Unser Ziel: Weniger Abbrüche durch persönliche Begleitung 
Wie immer in unseren Projekten haben wir auch in Dortmund Partner vor Ort mit ins Boot geholt: Neben dem Jobcenter zählen dazu die IHK, die Handwerkskammer und die Wirtschaftsförderung. Außerdem arbeiten wir mit vier Bildungsträgern zusammen, bei denen die Teilnehmenden den Unterricht im Rahmen ihrer Nachqualifizierung absolvieren. Gemeinsames Ziel der Projektpartner von „neustart“ ist es, die Abschlussquoten bei den Umschulungen und Teilqualifizierungen zu erhöhen. Die Betroffenen sollen die Chance einer Weiterbildung für sich nutzen. Dies ist bisher – nicht nur, aber gerade auch in Dortmund – ganz häufig nicht der Fall. Auch das hat wiederum viel mit dem bereits angesprochenen individuellen Ballast zu tun. Denn wer lange keine positiven beruflichen Erfahrungen machen durfte, vielleicht in schwierigen häuslichen Verhältnissen lebt, Sprachprobleme oder gesundheitliche Beschwerden hat, der tut sich einfach schwerer beim Dranbleiben. Diese Menschen brauchen Begleitung und individuelle Betreuung. Jemanden, der sie an die Hand nimmt und ihnen glaubhaft vermittelt: Du schaffst das.

Professionelle Mentoren stehen für individuelle Fragen bereit 
Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer von „neustart“ erhält deswegen einen persönlichen Mentor als Ansprechpartner zur Seite gestellt. Regelmäßig stattfindende Sitzungen, in denen es vor allem um die Anliegen der Teilnehmenden geht, sollen möglichst konkrete Hilfestellung bieten. Nachdem die Zielgruppe sehr unterschiedlich ist, fallen hier auch sehr unterschiedliche Themen an: Bei den Teilnehmenden der Umschulung zur/zum Steuerfachangestellten etwa handelt es sich größtenteils um alleinerziehende Mütter. Für sie sind Aspekte wie Zeitmanagement, Reflexion der eigenen Rolle oder Lernstrategien für die anspruchsvolle Umschulung ganz wichtig. Bei den Teilnehmenden, die sich in der Teilqualifizierung zum Berufskraftfahrer befinden, sind die Herausforderungen wieder ganz andere. Hier stehen Fragen wie Konfliktmanagement, Stressbewältigung und Verbindlichkeit im Vordergrund. Außerdem informiert „neustart“ über Methoden zur Förderung von Motivation und Selbstorganisation. Die kontinuierliche Begleitung und Unterstützung soll die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmenden fördern. Außerdem sieht das Programm innerhalb eines Förderjahres mehrere eintägige Workshops vor. Darin werden sie von professionellen Trainern bei der Stärkung ihrer Sozial- und Fachkompetenzen unterstützt: mit zielgruppengerechten Methoden, die das Selbstvertrauen stärken, sie motivieren und auf den Arbeitsmarkt vorbereiten.

Dieser kombinierte Ansatz aus Training und individuellem Mentoring hat sich in vielen unserer Projekte bewährt, sei es in der Betreuung von Studenten mit Migrationshintergrund („hochform“), sei es in der Arbeit mit Schülern, damit sie eine Lehrstelle finden („was geht!“). Wir sind sicher, dass er auch in der Betreuung von Langzeitarbeitslosen ein zentraler Erfolgsfaktor ist. Denn es geht darum, dass die Betroffenen ihr Verhalten und ihre inneren Hürden kritisch reflektieren und lernen, besser mit ihnen umzugehen. Das stärkt ihre Persönlichkeit und damit auch ihr Durchhaltevermögen. Nur unter diesen Voraussetzungen werden sie, parallel durch eine Umschulung für den Arbeitsmarkt fit gemacht, aus eigener Kraft den weiteren Weg gehen können.

Ihr Gunter Thielen