Fragen an Autor Rocco Thiede zu seiner Buch-Recherche

Alleinerziehende sind keine Familienversager! Der Journalist Rocco Thiede ist Autor unseres Buches „Lasst uns nicht allein!“, das von Stiftungschef Prof. Dr. Gunter Thielen herausgegeben wurde. Es beleuchtet die Situation Alleinerziehender und informiert über das wir2-Programm der Stiftung. Dafür hat der Autor an vielen Orten recherchiert und zahlreiche Gespräche geführt: mit Therapeuten, mit wir2-Experten und natürlich mit Alleinerziehenden. Er wollte herausfinden, warum sich viele Alleinerziehende von der Gesellschaft alleingelassen fühlen. Wir fragten ihn nach der Recherche-Arbeit und seinen persönlichen Erlebnissen.

Rocco Thiede

Herr Thiede, Sie haben im Auftrag der Stiftung mit mehreren Alleinerziehenden gesprochen. Wie sind Ihnen diese Kontaktpersonen begegnet?

Ich habe durchweg sehr offene und kommunikationsfreudige Mütter und Väter kennengelernt. Ihre Lebenswege, ja durchaus auch schweren Schicksale, haben mich persönlich sehr beeindruckt. Oft brauchte ich selbst einige Zeit, um das Gehörte für mich zu verarbeiten, bevor ich an die Verschriftlichung der Texte ging. Es war dann ein mehrstufiger Prozess mit vielen Abstimmungen.

Weshalb waren diese Abstimmungen erforderlich?

Bis zur Veröffentlichung der Reportagen gab es eine Reihe guter Vorschläge, wie die Texte im Sinne der Alleinerziehende bearbeitet werden sollten, ohne diesen zu schaden. Hier waren die Projektleiterin Frau Offel-Grohmann und später auch das Lektorat des Herder-Verlags gute Sparringspartner und beim kreativen Umsetzungsprozess sehr hilfreich. Das war letztendlich auch im Interesse der Ein-Elternfamilie – besonders mit Blick auf ihre Kinder –  zu ihrem Schutz. Wir empfahlen einer Reihe von Müttern ihre Geschichten zu anonymisieren. Nicht selten gingen und gehen die schmerzhaften Trennungen mit Unterhaltsklagen oder noch ausstehenden Entscheidungen von Familiengerichten über das Sorgerecht einher. In jedem einzelnen Fall war die Abstimmung mit allen am Buch beteiligten Frauen und Männern sehr intensiv, ehrlich und konstruktiv.

Was waren – und sind! – nach Ihren Erkenntnissen die größten Herausforderungen, mit denen diese Alleinerziehenden zu kämpfen haben?

Es sind die oft hoch konfliktträchtigen Trennungen von den Ex-Partnern und das Leid der Kinder, das dadurch entsteht. Neben diesem emotionalen und seelischen Druck sind für einen Großteil der im Buch Porträtierten auch gesundheitliche und materielle Sorgen eine tägliche Herausforderung. Sie stehen unter multiplen Belastungen. Über 30 Prozent der 1,4 Millionen Alleinerziehenden und ihre Kinder sind in Deutschland armutsgefährdet. Viele sind – trotz Erwerbstätigkeit – auf Sozialhilfe und Unterstützung angewiesen. Prof. Dr. Matthias Franz – der Spiritus Rektor des wir2-Bindungsprogramms – brachte es im Gespräch mit mir auf den Punkt, als er formulierte: „Armut an Geld und Armut an Beziehungen – das sind die beiden großen Krankmacher bei Alleinerziehenden“.

Deshalb hat er mit seinem Team an der Universitätsklinik Düsseldorf vor einigen Jahren das wir2-Programm entwickelt…

Richtig. Dank seiner wissenschaftlichen, sozialempirischen Studien gibt es dieses Bindungstraining, das Alleinerziehenden und ihren Kindern ganz konkret hilft und ihnen neue Orientierungen im Alltag gibt. Die Walter Blüchert Stiftung als gemeinnützige Förderin hat die Arbeit von Professor Franz seit Jahren ideell und materiell unterstützt und für die Verbreitung des Programms gesorgt. Man darf also hoffen, dass eines Tages das kostenlose Bindungstraining zum selbstverständlichen Angebot in jedem Bundesland und in jeder Kommune in Deutschland gehören wird. Aber der Weg dahin ist noch lang. Unser Buch möchte auch hier unterstützend helfen.

Einmal zusammengefasst: Welche Erfahrungen haben die Alleinerziehenden, mit denen Sie gesprochen haben, mit dem wir2-Projekt gemacht? Hat die Teilnahme am Programm ihnen geholfen?

Jede Mutter und jeder Vater, der mir in den vielen Interviews Rede und Antwort stand, ist quasi eine Kronzeugin oder ein Kronzeuge für die hohe Wirksamkeit von wir2. Viele getrennte Frauen und Männer mussten lernen, den Paarkonflikt von der Elternschaft zu trennen. Genau das lernt man im wir2-Programm. Ebenso wie dem eigenen Leben wieder Struktur, Halt und Orientierung zu geben, beispielsweise durch kleine Übungen mit den Kindern, mehr Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für sich selbst, Gelassenheit, Zuhören oder auch Spiele. Akzeptiert und erlernt werden müssen ebenso die Begrenztheit von Ressourcen, wie Zeit und Geld. Mit Verständnis und Einfühlsamkeit ist oft schon eine Menge erreicht. Sich hier einer geschulten wir2-Gruppenleiterin anzuvertrauen, bringt in vielen belasteten Familiensituationen eine erste Entspannung und im besten Fall neuen Lebensmut und neue Lebenskraft.

„Lasst uns nicht allein!“, so lautet der Buchtitel, der sich aus den Gesprächen herleitet. Und es ist eine Aufforderung an die Gesellschaft und Politik, dieser jährlich wachsendenden Gruppe die Aufmerksamkeit zu geben, die sie braucht und die ihr zusteht. Denn wie sagte es eine Mutter aus NRW in unserem Buch so treffend: „Alleinerziehende sind keine Familienversager!“.  Das Buch möchte ihnen auf ihren oft steinigen Wegen Mut machen, Orientierung und Kraft geben.