Die Pandemie verschärft soziale Ungleichheiten!
Die Vereinten Nationen haben den 20. Februar zum Internationale Tag der sozialen Gerechtigkeit erklärt. Darüber, wie gerecht es bei uns in Deutschland zugeht, wird immer wieder heftig gestritten. Die Corona-Pandemie dürfte bestehende Konflikte noch verschärfen.
Was bedeutet eigentlich soziale Gerechtigkeit?
Häufig wird soziale Gerechtigkeit an wirtschaftlichen Ungleichheiten gemessen: der Kontrast zwischen armen und wohlhabenden Bevölkerungsgruppen. Aber soziale Gerechtigkeit ist mehr. Das deutsche Grundgesetz verbindet mit dem Sozialstaat-Gedanken, dass den Bürgerinnen und Bürgern eine existenzsichernde Teilhabe an den materiellen und geistigen Gütern der Gemeinschaft garantiert wird – eine Mindestsicherheit, um ein selbst bestimmten Lebens in Würde und Selbstachtung zu führen.
Eine verbindliche und einheitliche Definition sozialer Gerechtigkeit gibt es allerdings nicht. Messbare soziale Ungleichheiten gehören dazu: beispielsweise die Verteilung von Vermögen und Einkommen, Bildungschancen und das Armutsrisiko. Aber auch Faktoren wie der Zugang zum Gesundheitswesen und zum Arbeitsmarkt sowie politische Teilhabe spielen eine Rolle.
Das magische Viereck
Wissenschaftler unterscheiden vier Dimensionen sozialer Gerechtigkeit: Bedarfs-, Leistungs-, Generationen- und Chancengerechtigkeit. Die vier Aspekte dieses magischen Vierecks bedingen einander und stehen teilweise im Konflikt: Nicht alle Ziele lassen sich gleichzeitig erreichen – wie das Beispiel Chancengerechtigkeit zeigt.
Jeder Mensch soll demnach die gleichen Möglichkeiten haben, sein Potenzial zu entfalten – unabhängig von Herkunft und sozialem Status, Geschlecht, Alter, Behinderung oder kulturellem Hintergrund. Die Realität ist jedoch: Das Bildungsniveau der Eltern entscheidet über den Start ins Leben. Und da ein niedriger Bildungsabschluss häufiger mit niedrigem Einkommen und höherer Gefahr von Arbeitslosigkeit einhergeht, beeinflusst auch die finanzielle Situation der Eltern die Bildungschancen ihrer Kinder.
Ungleiche Bildungschancen
Auch wenn in Deutschland Eltern mit niedrigen Einkommen zusätzlich zum Kindergeld noch einen höheren Kinderzuschlag bekommen, keine Kita-Gebühren zahlen müssen und mit dem „Starke-Familien“-Gesetz von 2019 das sogenannte Bildungspaket – Leistungen für Bildung und Teilhabe – verbessert wurde: Chancengerechtigkeit wird dadurch nicht erreicht, wie zahlreiche Studien belegen.
Während die Kluft zwischen Armen und Reichen in unserem Land nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren relativ stabil geblieben ist, hat sich in der Chancengerechtigkeit nur wenig verbessert. Deutschland verschenkt immer noch zu viel Potenzial!
Pandemie verstärkt Bildungs-Ungerechtigkeiten
Die seit zwei Jahren grassierende Corona-Pandemie spiegelt die soziale Ungleichheit. So nimmt eine Covid-19-Infektion bei Menschen mit geringem Einkommen häufiger einen schweren Verlauf. Eine entscheidende Ursache hierfür wird darin gesehen, dass Ärmere häufiger unter problematischen Vorerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck leiden. Als mögliche Gründe kommen unter anderem die oft beengten Wohnverhältnisse infrage und die Tatsache, dass ärmere Menschen und Migranten häufig in schlecht geschützten Berufen ohne Homeoffice-Möglichkeiten arbeiten.
Und auch jenseits finanzieller Aspekte sind die Pandemie-Belastungen enorm – besonders für Kinder und Jugendliche. Sie mussten über lange Zeit auf soziale Kontakte, Sport und das gemeinsame Erleben in der Gruppe verzichten. Forscher gehen davon aus, dass geschlossene Schulen und Distanzunterricht die ohnehin bestehenden Bildungs-Ungerechtigkeiten noch verstärkt haben.
Um negative Folgen für die Entwicklung der jungen Menschen abzumildern, haben Bund und Land das Programm „Aufholen nach Corona“ für die Jahre 2021 und 2022 beschlossen. Aus dem Bereich des NRW Familienministeriums werden dabei zusätzlich rund 107 Millionen Euro investiert. Einschließlich der Angebote des Ministeriums für Schule und Bildung stehen insgesamt 539 Millionen Euro in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung, um den Folgen der Corona-Pandemie entgegenzuwirken – ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit. Familienminister Joachim Stamp hat recht: Kinder und Jugendliche dürfen nicht die Verlierer der Pandemie werden.
Lerndefizite und Trauma-Gefahr
Es sind nicht nur Lernrückstände, die Kindern und Jugendlichen als Folge der Pandemie zu schaffen machen. Sie mussten in den vergangenen Monaten große Verunsicherungen erleben. Nicht nur in Kita, Schule oder im Betrieb, sondern auch zu Hause war das vertraute Zusammenleben oft nicht mehr vorhanden. In der Aufarbeitung der Pandemiefolgen darf es daher nicht nur darum gehen, Wissenslücken zu schließen, sondern auch dort einzugreifen, wo möglicherweise physische und psychische Beeinträchtigungen entstanden sind.
In der Walter Blüchert Stiftung haben wir gute Erfahrungen mit Mentoring- und Coaching-Aktivitäten gemacht – zum Beispiel in den Projekten was geht! zur Berufsorientierung, bei durchstarten für Azubis, beim Flüchtlingsprogramm angekommen in deiner Stadt, beim Langzeitarbeitslosen-Projekt neustart und im für hochform-Programm für ausländische Akademiker.
In allen Konzepten stehen emotionale Unterstützung, persönliche Begleitung und Stärkung des Selbstbewusstseins im Vordergrund – übrigens auch bei unserem wir2-Projekt für belastete Alleinerziehende und ihre Kinder. Es trägt dazu bei, dass sich statt des Risikos einer Depression für die Betroffenen neue Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe eröffnen.
In der Pandemie besonders gefordert
Die Corona-Pandemie hat auch unsere Stiftung vor besondere Herausforderungen gestellt. Ich bin beeindruckt, was die Projekt-Kolleginnen und Kollegen in dieser schwierigen Zeit auf die Beine gestellt haben. Sie entwickelten kurzfristig Info-Pakete für die angekommen-Schülerinnen und Schüler, die per Post oder Kurier verschickt wurden, neue WhatsApp-Gruppen, digitale Exkursionen für angehende Azubis im Realschul-Projekt was geht!, persönliche Telefon-Betreuung beim Langzeitarbeitslosen-Programm neustart. Und unser wir2-Programm ging mit digitalen Gruppenleiterschulungen und Supervisionen und sogar mit einem neuen wir2-Online–Angebot für Alleinerziehende an den Start!
Darüber hinaus ist es uns trotz der Pandemie-Einschränkungen gelungen, kurzfristig ein neues Projekt aufzusetzen, das Grundschulkinder bei der Bewältigung der Corona-Folgen unterstützt: das Pilotprojekt gut:gehen für Zweitklässler. Dabei helfen Theaterpädagoginnen und -pädagogen den Kindern, spielerisch an sich zu arbeiten. Mit Bewegung, Tanz, Schauspiel, Musik und Körpergefühl fördern sie das Selbstbewusstsein und die Konzentrationsfähigkeit der Kleinen, so dass diese gestärkt durch den Alltag zu gehen können.
Weniger Ungleichheiten – mehr Nachhaltigkeit
Die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Teilhabe ist seit jeher ein von Deutschland verfolgtes Ziel und Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Mit der Verabschiedung der Agenda 2030 wurde erstmals auch ein globaler Handlungs- und Orientierungsrahmen für nachhaltige Entwicklung geschaffen. Zu den 17 globalen Zielen gehört Punkt 10: Weniger Ungleichheiten. Dazu heißt es auf der Webseite der Bundesregierung: „Der Abbau zu starker Ungleichheit stärkt den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft, weckt Leistungsbereitschaft, fördert die Innovationsfähigkeit, trägt zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum bei und kann das Migrationspotenzial senken.“
Fest steht: Für eine nachhaltige Entwicklung müssen alle gesellschaftlichen Akteure zusammenwirken. Auch die Walter Blüchert Stiftung will ihren Beitrag dazu leisten. Wir setzen uns für Chancengerechtigkeit ein, indem wir Menschen in Umbruchsituationen Unterstützung anbieten, so dass sie persönliche und gesellschaftliche Barrieren überwinden können – um sich selbst zu helfen, aber auch, um einen nachhaltigen Beitrag für Wirtschaft und Gemeinwohl zu leisten. Denn wir sind überzeugt: Chancen für den Einzelnen können gleichzeitig ein Gewinn für die Gesellschaft sein.
Ihr
Gunter Thielen